Anlässlich unseres trialogischen Fachtags „Strategien gegen Stigmatisierung“ haben wir im neuen Infoblatt mehrere Seiten dem Thema Stigma(tisierung) und der Veranstaltung am 28.04.2022 im Nachbarschaftshaus Gostenhof gewidmet.

Der Leitartikel „Das Stigma neu denken!“ von Brigitte Richter findet man auf S. 8/9 im neuen Infoblatt. Um ihn einer breiteren Leserschaft zur Verfügung zu stellen, findet man ihn auch auf Instagram und hier.


Das Stigma neu denken!

Machen wir uns nichts vor: Weder ist unsere Stigmatisierung neu noch sind psychisch erkrankte Menschen die einzige Bevölkerungsgruppe, die von ihren Mitbürgern stigmatisiert wird. Angehörige psychisch Erkrankter, Flüchtlinge, Deutsche mit Migrationshintergrund, Obdachlose, Sinti und Roma, queere Menschen, u.v.a.m. werden ebenfalls stigmatisiert.

Die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen datiert mindestens aus dem Mittelalter, als sie zusammen mit anderen unliebsamen Menschen in „Arbeitshäuser“ gesteckt wurden. Wir stigmatisieren uns ja sogar untereinander, wenn „die Psychotiker“ „die Suchtler“ verachten und umgekehrt.

Díe Stigmatisierung psychisch erkrankter Menschen ist wohl kaum auszumerzen.

Auch ich bin vor vier Jahrzehnten einmal hoffnungsvoll gegen die Stigmatisierung psychisch Kranker angetreten, obwohl ich damals immer noch mit meiner eigenen Selbststigmatisierung als Schizophrene kämpfte, weil ich die Vorurteile gegen uns schon mit der Muttermilch eingesogen hatte. Aber gleichzeitig „wusste“ ich auch tief in meinem Inneren, dass ich nicht der minderwertige Mensch war, für den mich andere hielten.

Ich fand Mitstreiter*innen gegen das Stigma psychisch kranker Menschen in Prof. Angermeyer (Leipzig) und Dr. Manuela Richter-Werling vom Verein „Irrsinnig Menschlich“ Leipzig, dem ich 2004 beitrat. Ich machte mich dort nützlich indem ich dessen Schulprojekt „Verrückt? Na und!“ in den sozialpsychiatrischen Gremien bewarb und das Schulprojekt zusammen mit Anja Link jahrelang in Mittelfranken organisierte.

Die Ernüchterung folgte, als Prof. Georg Schomerus (Leipzig) in der Nachfolge von Prof. Angermeyer dessen Jahrzehnte alten Umfragen zur sozialen Distanz gegenüber psychisch Kranken in der Bevölkerung ab 2010 akribisch in derselben Weise wiederholte, damit die Ergebnisse vergleichbar waren:

Für Schizophrene hatte sich so gut wie nichts verändert. Immerhin haben jetzt Depressive weniger unter dem Stigma zu leiden.

Dass die Berichterstattung der Medien dafür verantwortlich gemacht werden kann, lässt sich nicht wissenschaftlich beweisen. Medienberichte sind wohl eher sowohl Ergebnis als auch Verstärker vorhandener gesellschaftlicher Entwicklungen (Schomerus 2022).

Es hat eben auch – trotz aller vordergründigen Erfolge nichts genützt, in den Schulprojekten durch (kurze) Begegnungen von Schüler*innen mit Vorzeige-Betroffenen Aha-Erlebnisse bei den Schüler*innen zu erzeugen. (Wohl aber profitieren die „Expert*innen in eigener Sache“ davon, weil sie dabei lernen, zu sich selbst zu stehen!)

Sobald dann aber ein unangenehmer psychisch kranker Mensch kommt und etwas Übles tut, schnappen die alten Vorurteile wieder zurück. Die Akzeptanz psychisch kranker Menschen vermehrt sich eben nicht nach dem Graswurzel-Prinzip, sondern sie muss immer wieder praktiziert und geübt werden, um nachhaltig zu wirken.

Eine biologistische Sicht auf den Hirnstoffwechsel als Ursache von Schizophrenien und anderer psychischen Erkrankungen festigte die Vorurteile eher als dass sie sie aufbrach. Denn wer mit so einem Defekt ausgestattet ist, kann ja nur ein „Mängelexemplar“ bleiben!

Seit viel zu vielen Jahren wiederholen sich die Klagen der Betroffenen und ihrer Angehörigen darüber, wie ungerecht es doch sei, dass ein Armbruch „angesehener“ ist als z. B. eine Angsterkrankung, die man nicht sieht… Ich kann solches Selbstmitleid allmählich nicht mehr hören!

Immer „noch mehr desselben?“

Das bringt doch wohl eher nichts. Es macht uns PE nur schwächer, wenn wir von anderen erwarten, dass sie uns entstigmatisieren.

Wir werden wohl endlich unsere Opferrolle aufgeben und selbstbewusster zu unserem So-Sein stehen müssen. Je mehr wir zu uns und zu unseren Beeinträchtigungen stehen, desto selbstverständlicher wird es für uns, uns nicht mehr zu verkriechen. Unser Ziel kann nicht mehr sein, das Stigma wegmachen (lassen) zu wollen. Wir müssen einfach so gut wie möglich damitleben und lernen, uns immer weniger aus dem zu machen, was andere über uns denken.

– Brigitte Richter